Ich stehe gedankenverloren an der Bar und rühre zufrieden mit einem pinken Strohhalm in meinem Gin-Tonic. Das Leben ist schön. Und dann, ganz plötzlich, völlig unverhofft und fast genauso unnötig passiert es: „Hey, Nina! Schön dich mal wieder zu sehen. Was machst du so?“

Was ich jetzt sagen sollte: „Ich bin Einzelhandelskauffrau bei REWE. Selbst?“

Was ich stattdessen sage: „Ich bin Scrum Master in einem Softwareentwicklungsprojekt.“
Ich weiß, dass das zu sagen ein Fehler ist, aber ich mache meinen Job gern und außerdem haben wir schließlich alle mal gelernt, dass man nicht lügen darf. Also ergebe ich mich heroisch in mein Schicksal der nächsten 15 Minuten. Dabei kennt diese Situation in ihrem weiteren Verlauf folgende Spielarten:

Der Unbedarfte: „Was? Ist das nicht irgendwas mit Sport? Ich dachte, du hättest Jura studiert?“

Was ich jetzt sagen sollte: „Ja, genau! Ich hab‘ mein Studium abgebrochen und spiele jetzt professionell Rugby. Und sonst so? Du machst doch irgendwas mit Medien, oder?“

Was ich stattdessen sage: „Scrum ist ein Rahmenwerk zur Entwicklung und Erhaltung komplexer Produkte. (Ja, ich zitiere gelegentlich aus dem Scrum Guide und es ist mir nicht peinlich.) Deine Assoziation mit dem Sport ist nicht so fernliegend. Scrum ist ein Begriff aus dem Rugby, bezeichnet dort einen Spielzug und bedeutet übersetzt sowas wie ‚Gedränge‘. Im Zusammenhang mit Projektmanagement ist es ein agiles Vorgehen, das drei Rollen kennt: Product Owner, Entwicklungsteam und Scrum Master. Meine wesentliche Aufgabe besteht darin, sowohl dem gesamten Scrum Team als auch der Organisation in der ich arbeite, die Theorie, Praktiken und Regeln von Scrum beizubringen und zu gewährleisten, dass sie verstanden, akzeptiert und eingehalten werden.“

Der Vorteil des Unbedarften liegt darin, dass er relativ ungefährlich ist und in der Regel nach meinem Kurzreferat ohne weiteren Small-Talk geht. Ich kann diese Methode auch jedem empfehlen, der sich auf einen ruhigen Abend eingestellt hatte und kurzfristig einen Gesprächspartner loswerden will.

Der Typ mit dem gefährlichen Halbwissen: „Ach, ihr seid die mit den Zetteln und den Stellwänden, stimmt’s? Bei uns haben sie gerade alle Teilprojektleiter zu Scrum Mastern gemacht und die stehen jetzt morgens immer mit ihren Angestellten im Flur und kleben Post-Its an die Wand. Alle paar Wochen blockieren sind sie dann mehrere Stunden den großen Besprechungsraum für irgendeine Präsentation und danach gibt es Brezen und Süßigkeiten. Ich habe nicht den Eindruck, dass das was bringt. Und teuer ist das auch, wenn die Teams ständig nur reden und nichts arbeiten. Unsere Firma macht das jetzt schon seit vier Monaten.“

Was ich jetzt sagen sollte: „Du hast völlig recht. Schmeißt es hin! Ich mach‘ das auch nur, weil mein Examen für das Richteramt nicht gut genug war.“

Was ich stattdessen sage: „Also grundsätzlich ist es keine besonders gute Idee Vorgesetzte oder Teilprojektleiter in einer bestehenden Organisation einfach umzulabeln. Ein erfolgreiches Scrum Projekt lebt vor allem von einem Mind Set, das in klassisch aufgestellten Organisationen zunächst oft nicht vorhanden ist. Dazu zählt unter anderem das Verständnis für die Rolle des Scrum Masters. Er ist nicht weisungsbefugt, nicht disziplinarisch vorgesetzt und schon gar nicht sagt er dem Team wie es seine Arbeit erledigen soll. Der Scrum Master ist ein Servant Leader für das Scrum Team.
Scrum ist ein iterativ inkrementelles Vorgehen. Innerhalb einer Iteration – genannt Sprint - schreibt das Rahmenwerk vier Ereignisse vor: Sprint Planning, Daily Scrum, Sprint Review und Sprint Retrospektive. Jedes dieser Ereignisse dient einem Zweck. Deine Kollegen stehen zum Beispiel morgens da rum, weil sie sich in ihrem Umsetzungsteam darüber austauschen, was sie am vergangenen Tag erreicht haben, was sie an diesem Tag erreichen wollen und welche Hindernisse ihre aktuelle Aufgabenerledigung erschweren. Als Hilfsmittel für die Aufgabenplanung und –abarbeitung dienen dabei häufig Taskboards. Soviel mal zu den Post-Its an der Wand. Zur Planung, dem Review und der Retrospektive sind in der Regel alle Teammitglieder eingeladen, um Wissen zu verteilen, ein gemeinsames Verständnis vom Produkt zu gewährleisten und erkanntes Verbesserungspotential gemeinsam in Maßnahmen zu operationalisieren.
Und – by the way - so wie du über deine Arbeit sprichst, wäre es vielleicht auch eine gute Idee bei euren Besprechungen Süßigkeiten und Brezen zu verteilen, um ein angenehmes Arbeitsklima zu schaffen.

Je nachdem, wie spät es ist und wie viel Energie an diesem Tag noch für die Missionierung in Sachen Scrum zur Verfügung steht, lässt sich dieses Gespräch beliebig ausdehnen. Hier ist aber Vorsicht geboten: Im banalsten Fall vergisst der Typ einfach, was ich gesagt habe. Im besten Fall entwickelt er Verständnis für das agile Projekt auf seinem Stockwerk. Aber im schlimmsten Fall latscht er am nächsten Tag in seine Firma und zerstört mit falsch verstandenem, absorbiertem Wissen auch noch die letzte Chance seine Abteilung in die Zukunft zu führen.

Der Typ von Scrum.org: „Ah! Und? Zertifiziert? Ich finde ja, die Typen von Scrum Alliance nehmen das alles viel zu locker. Versteh‘ mich nicht falsch, ich steh auf ‚Inspect and adapt‘ aber man muss doch irgendwann auch mal erkennen, dass das nicht für die Regeln des Frameworks gelten darf.“

Was ich jetzt sagen sollte: „Dann vergiss mal nicht, brav die Gebühren für die Verlängerung deines Zertifikats zu überweisen. Nicht dass du am Ende noch aus eurer elitären Gemeinschaft fliegst.“

Was ich stattdessen sage: „Ich finde die erfundene Rivalität der beiden Zertifizierungsstellen etwas kindisch. Seien wir doch mal ehrlich: Es ging ums Geld als sich die Scrum Gründer getrennt haben und nicht um Werte und Ideale. Jetzt können sie beide fröhlich kassieren. Aber abgesehen davon bin ich bezüglich des Anpassens von Regeln nicht deiner Meinung. Wie der Scrum Guide selbst schon sagt: Es handelt sich um ein Rahmenwerk. Innerhalb dieses Rahmens kann und muss ich doch für mich, mein Team und die Organisation erst erfahren, ausprobieren und festlegen, was in der konkreten Konstellation funktioniert. Und einfach nur mal so zum Nachdenken: Kommt es dir nicht auch absurd vor, als einen der höchsten Werte die Anpassung an Veränderungen auszurufen und gleichzeitig zu sagen ‚Aber bitte nicht bei mir‘?“

Dieses Gespräch hat grundsätzlich Potential, sehr witzig zu werden. Gleichermaßen anstrengend kann es aber auch sein. Als Eingangsvoraussetzung ist festzuhalten, dass man diesen Gesprächspartner nicht bekehren kann. Wenn man sich dessen bewusst ist, Lust auf andere Ansichten hat und das Gegenüber nicht der beste Freund werden soll, lohnt es sich, ein bisschen Zeit und Energie zu investieren.

In jedem Fall gilt: Zur Not einfach noch einen Drink bestellen.